Dieses Wochenende findet in Berlin der Christopher Street day statt. Dabei wird an den Aufstand queerer Menschen nach der Razzia im Stonewall Inn erinnert. Die Bar, die an der Christopher Street in New York liegt, wird heute unter anderem von Stacy Lentz und Kurt Kelly betrieben. Tree Sequoia arbeitet dort und war auch in der Nacht des Aufstands am 28. Juni 1969 zugegen.
GROOVE-Autor Tom-Luca Freund hat mit den Dreien gesprochen: Über den Abend des Aufstands, das Erbe und die heutige Arbeit des Stonewall und darüber, ob Unternehmen auf Pride-Demos gehören.
GROOVE: Die Stonewall Riots werden häufig als Beginn der weltweiten LGBTQIA+-Bewegung bezeichnet. Wie ist der Abend aus deiner Sicht abgelaufen, Tree?
Tree Sequoia: Für mich persönlich war das der Beginn der Schwulenrechtsbewegung, denn 1969 hatten wir keine Rechte. Es war illegal, Alkohol an Homosexuelle zu verkaufen. Ich bin ein paarmal ins Gefängnis gekommen, weil ich in Schwulenbars war. Sie haben Razzien in Bars veranstaltet, um uns ins Gefängnis zu stecken. Es kam aber auf die Richter an: Einige sagten: „Ihr verschwendet meine Zeit, geht nach Hause.” Andere beschimpften uns und verhängten Geldstrafen. Am Abend des 28. Juni 1969 wussten wir aber nicht, dass das die Razzia aller Razzien war. Wir tanzten gerade, als wir die Polizisten kommen hörten. Ich sagte zu meinem Freund Charlie: „Nicht noch eine Razzia”, aber wir wussten nicht, dass das die Razzia ist, die vieles verändern würde.
Was ist dann passiert?
Tree Sequoia: Wir hörten, wie die Polizei hereinkam. Wir ahnten es nicht, bis wir einen Freund schreien hörten: „Fasst mich nicht an, mein Mann ist Polizist!” Das war der Satz, nach dem wir wussten, dass es eine Razzia war. Dann kamen einige Polizisten herein, die nicht gerade freundlich waren. Normalerweise kamen sie und sagen: „Okay, Mädels, stellt euch auf.” Aber diese Typen kamen herein, schubsten und drängelten, und die Leute begannen sich zu wehren. Dann sah ich eine Flasche an meinem Auge vorbeifliegen, und da fing es an. Wir hatten Glück, dass Charlie, der Nachbarschaftspolizist, uns auf der Straße half, denn Leute ohne Ausweis waren in Schwierigkeiten. Das Mindestalter für Alkoholkonsum war 18. Die Besitzer der Bar ließen einen aber auch rein, wenn man 16 war und zwei Dollar hatte, weil sie deine zwei Dollar wollten. Wir gingen nach draußen, und dann ist ein Fenster zerbrochen. Jahrelang dachten alle, dass Marsha P. Johnson das Fenster eingeworfen hat. Doch 40 Jahre später gab sie schließlich zu, dass sie zu der Zeit gar nicht da gewesen war. Sie kam erst um zwei, drei Uhr morgens. Am nächsten Abend kamen wir zurück, und die Gegend war voller Rauch von brennenden Mülltonnen. Wir sahen Fernsehkameras, unsere Familien hatten aber noch keine Ahnung von unserer Sexualität. Also gingen wir in ein schwules Café namens „Mama’s Chicken Ribs”, wo ich damals arbeitete. Danach waren wir noch bei mir und spielten bis sechs Uhr morgens Scharade.
Wann hast du zum ersten Mal gemerkt, dass du Teil von etwas Historischem bist?
Tree Sequoia: Das war erst Jahre später. Am Anfang fragten die Leute: „Warst du im Stonewall?“ Wir antworteten: „Nein.” Das war nichts Besonderes, es gab Razzien in jeder Bar. Plötzlich erwähnte Obama das Wort „Stonewall” in seiner Antrittsrede. Da bekam ich Gänsehaut. Später machte er die ganze Gegend zu einem National Monument. Ich bin so stolz, ein Teil davon zu sein. Ein anderer Moment, in dem mir die Tragweite bewusst wurde, war 1994. Da war ich bei den Vereinten Nationen und habe anlässlich des 25. Jubiläums über die Geschichte von Stonewall gesprochen. Seit diesem Tag sprechen mich viele Leute an.
Wenn du das New York damals mit dem von heute vergleichst – was hat sich geändert?
Tree Sequoia: Alles hat sich verändert. Alle Restaurants, in denen ich gegessen habe, sind jetzt Banken und Starbucks. Einige der Schwulenbars, in denen ich war, wurden zu heterosexuellen Bars und schlossen dann. In meiner Nachbarschaft gab es direkt gegenüber von meinem Haus einen Lebensmittelladen, in den ich sogar im Pyjama gehen konnte. Jetzt gibt es nichts mehr davon. Einiges verändert sich zum Guten, andere Sachen vermisse ich, zum Beispiel bestimmte Bars. Ich habe ab 1996 sechs Jahre lang im Julius‘ gearbeitet, der ältesten Schwulenbar. Damals wollte ich mich eigentlich zur Ruhe setzen, aber dann eröffnete das Stonewall Inn wieder. Kurt rief mich an und sagte: „Wir wollen dich zurück, du bist ein Teil der Geschichte.” Ich sagte zu, weil ich diesen Mann liebe.

Wie lebt das Erbe von Stonewall heute noch weiter?
Stacy Lentz: Wir haben eine gemeinnützige Organisation gegründet, die Initiative „Stonewall Inn Gives Back”. Wir fanden es wichtig, das Erbe am Leben zu erhalten und weltweit für sichere Räume zu kämpfen. Mit der Initiative sorgen wir dafür, dass Bars, Veranstaltungsorte, Restaurants und Unternehmen, die sagen, dass sie auf unserer Seite stehen, nicht nur Lippenbekenntnisse abgeben, sondern aktiv für Gleichberechtigung kämpfen. Wir bilden diese Firmen weiter, um sie zu sicheren Räumen zu machen, und geben das damit erwirtschaftete Geld an Basisorganisationen weiter, die sich in Ländern wie Uganda, Kenia und Irak engagieren, wo es auch im Jahr 2025 noch sehr schwierig ist, LGBTQIA+ zu sein. Ich würde sagen, dass es überall schwieriger wird, weil wir leider beobachten müssen, wie unsere gesamte globale Bewegung zwei Schritte zurückgeworfen wird. Das ist es, was wir mit der Stonewall-Legacy versuchen: Sie am Leben zu erhalten, das Stonewall Inn an vorderster Front zu halten. Stonewall ist definitiv mehr als eine Bar. Es ist ein Symbol und ein globales Symbol für den Kampf gegen Unterdrückung.
Kurt Kelly: Um überhaupt an das Ladenlokal des historischen Stonewall Inn zu kommen, mussten wir uns gegen einen Starbucks, ein Nagelstudio und einen Jazzclub durchsetzen. Damals, 2006, wurde es nicht als historischer Ort behandelt, wie es eigentlich hätte sein sollen. Als wir den Laden dann bekommen haben, haben wir ihn erst mal für sechs Monate geschlossen. Die Wände waren voller Rattenlöcher. Wir wollten diesen Ort so gestalten, dass er wie eine Schwulenbar in den Sechzigern aussieht, wenn sie legal gewesen wäre. Im Erdgeschoss haben wir eine Bar eingerichtet, von der wir erst fünf Farbschichten entfernen mussten, um die ursprüngliche Farbe freizulegen. Im Obergeschoss haben wir eine Art Moulin Rouge, ein kleines Kabarett, gestaltet, mit Rot-, Gold- und Schwarztönen, sogar unsere Kronleuchter sind rot.
Wie gesichert ist die Arbeit des Stonewall Inn heute? Vor allem im Hinblick auf die zweite Präsidentschaft von Donald Trump?
Kurt Kelly: Es ist hart, aber wir gehen nirgendwo hin. Trump kann uns gar nichts anhaben. Wir haben die Bar in ihrer jetzigen Form 20 Jahre lang aufgebaut. Wir haben jeden Zentimeter davon mit unserem Herzen und unserer Leidenschaft für das Erbe der Bar und für die Bewegung aufgebaut. Bisher sind 50 Jahre vergangen und wir haben noch weitere 50 Jahre vor uns. Wir werden nichts aufgeben, für uns geht es immer vorwärts.
Stacy Lentz: Wir werden definitiv weiter gegen Trump kämpfen, wie Kurt gesagt hat. Die Realität ist, dass es viel schwieriger geworden ist. Wir sehen insbesondere die Auslöschung von Trans-Personen, etwa durch die Änderung von Geburtsurkunden und Geschlechtsangaben. Auf der anderen Seite haben wir wirklich das Gefühl, dass wir eine Gemeinschaft haben, die zusammenhält. Wir stehen vor den US-Zwischenwahlen. Die Wahlentscheidung hat Einfluss, also können wir hoffentlich einige Dinge ändern. Hoffentlich werden wir nie wieder einen Präsidenten wie diesen haben und die Menschen werden aus diesem Moment lernen. Denn wenn wir nichts lernen, könnten wir wieder in das Jahr 1969 zurückfallen, in dem wir kämpfen mussten. Wir nähern uns diesem Moment. All die Fortschritte, die wir gemacht haben, können leicht zunichte gemacht werden, und wir sehen gerade, wie sie ausgehöhlt werden.
Kurt Kelly: Es geht auch darum, Jugendlichen Bildungsangebote zu machen. Sie müssen unsere Geschichte kennen. Denn wenn sie unsere Geschichte nicht kennen, haben wir keine Zukunft. Sie müssen wissen, dass die Leute 1969 für unser Recht gekämpft haben, zu sagen, wer wir sind und wen wir lieben.
Tree Sequoia: Ich möchte nicht noch einmal ins Jahr 1969 zurückkehren – oder noch weiter zurück. In den Sechzigern haben sich nur sehr wenige Menschen geoutet. Jetzt gibt es so viele Menschen, die queer sind, ein Verbündeter oder Freunde. Jetzt gibt es viele, die unsere Rechte verteidigen, für unsere Rechte kämpfen werden und für die richtigen Leute stimmen, die uns mögen und uns nicht auslöschen wollen.

Die Pride-Demonstration in Berlin steht an – mit Beteiligung von Unternehmen und politischen Parteien. Ist das für euch der richtige Weg, um mit dem Erbe von Stonewall umzugehen?
Tree Sequoia: Mir macht es Spaß, ich war Grand Marshal bei der Europride in Österreich, nehme an vielen Paraden teil und ich liebe es. Ich mache immer Witze und sage: „Da bin ich und winke den Leuten zu, aber ich habe keine Ahnung, wer ihr seid.” Es ist so aufregend, dass die Leute dich anfeuern, wenn du vorbeigehst, und schreien und winken oder deinen Namen rufen. Das ist herzerwärmend, und man bekommt Gänsehaut. Das ist mein erstes Mal bei der Berlin Pride. Ich war schon zweimal bei der Köln Pride und bei einigen anderen Paraden, darunter einige in den Vereinigten Staaten. Ich freue mich darauf.
Stacy Lentz: Ich verstehe, was du mit deiner Frage meinst. Ich weiß, dass viele Leute in unserer Community es nicht immer gut finden, wenn Unternehmen ein Teil von ihr sind. Wir müssen zu den Wurzeln zurückkehren und uns daran erinnern, dass Pride Protest ist. Die Pride begann als Aufstand. Es ist keine Party. Es macht Spaß, eine Party zu feiern, denn queer joy wird ausgelöscht, und wir haben ein Recht auf queere Freude. Aber wir müssen uns immer daran erinnern, wie das alles angefangen hat. Ich finde es toll, dass ihr es nicht Parade nennt, sondern Demonstration. Das ist richtig. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Diversity, Equity, and Inclusion [Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion: eine Abkürzung für Richtlinien im Arbeitskontext gegen Diskriminierung, Anm. d. A.] insbesondere in den USA unter Beschuss steht. Wenn Unternehmen sich also entscheiden, unserer Community treu zu bleiben, finde ich das in Ordnung. Ich weiß, dass einige Leute das nicht tun. Wenn Unternehmen, solange sie nicht nur Show machen, solange sie es wirklich ernst meinen und zeigen, dass sie kein Rainbow-Washing betreiben und keine Regenbogen-Kapitalisten sind, sich beteiligen, finde ich das in Ordnung.
Derzeit wenden sich viele Unternehmen, insbesondere in den USA, von uns ab. Unsere Pride war in diesem Jahr kleiner, weil fast 50 Prozent der bisherigen Sponsoren nicht dabei waren. Man kann Prides auch traditionell gestalten und trotzdem Unternehmen einbeziehen, weil wir manchmal ihre Finanzierung brauchen, um der Basis Mittel zu geben. Ich finde es also super wichtig, dass Unternehmen, die uns aus den richtigen Gründen unterstützen, authentisch und nicht nur zur Show, dabei sind.