Teil 1 der essenziellen Alben im Juni findet ihr hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
Polygonia – Dream Horizons (Dekmantel)
Heute ist es gar nicht mehr so einfach, im Techno noch etwas Neues zu sagen. Gerade deshalb wurde Polygonias Album auf Dekmantel mit Spannung erwartet, ist die Münchnerin Lindsey Wang doch dafür bekannt, dass sie dem Genre mit ihrer eigenen Musikalität frischen Wind einhaucht. Über die letzten Monate ist ihr ein immer promineterer Status als heilsbringende Newcomerin zuteil geworden – dieses Album versteht sich somit als Kür und könnte dem angestauten Hype endlich das zertifizierende Gütesiegel aufsetzen. Doch zunächst zum Inhalt.
Das Album folgt dem namensgebenden Konzept, nämlich einer modularen Erzählweise episodenhaft geschilderter Traumwelten. Klingt so weit komplex, bietet aber einen einfachen Zugang zu allerlei wilden, surrealen Klangwelten, die sich nur minimal miteinander auseinandersetzen müssen; denn Träume kommen nun mal recht irr und wirr daher und müssen vor allem keinem roten Faden folgen. So lässt sich die Album-Dramaturgie zwar anhand rhythmischer und ambienter Phasen ablesen, die Übergänge sind allerdings teils fluide, teils abrupt und geben vielmehr einen kaleidoskopischen Rundumblick ins Innere der Künstlerin preis.
Dargestellt wird das alles mit Polygonias bekannten Mitteln: ihrem präzisen Sounddesign mit Hang zu mikroskopisch kleinen Details und Bewegungsmustern, ihren Myriaden verschiedener stilistischer Einflüsse, Techno, Ambient, Downtempo, Dub, Jungle, Drum’n’Bass, Footwork, Psytrance, Jazz und weitere, und einem Verständnis von Klangräumen, das dem geschulten Ohr einer klassisch ausgebildeten Musikerin geschuldet ist. Dabei finden sich neben den selbst eingespielten Sounds der Multi-Instrumentalistin immer wieder hochprozessierte Fragmente ihrer Stimme wieder, die den Tracks entweder Textur, Rhythmik oder auch organische Elemente verleihen. Die ganze Traumwelt, in welcher konkreten Ausformung auch immer, fühlt sich so stets nach Polygonias eigener Kreation an.
Wenn man auf ältere Veröffentlichungen der Künstlerin blickt, war auch hier bereits ein strenges eigenes Ökosystem zu erkennen, das sich weniger Gedanken um Funktionalität denn Originalität machte. Dream Horizons folgt diesem Trend und setzt auf hyperkomplexe, verschachtelte Strukturen, die dennoch irgendwie das Gefühl von Techno heraufbeschwören, ohne sich dabei dem strengen Minimalismus der Vorlage zu ergeben.
So zieht der schimmernde, pulsierende Opener sofort hinein in Polygonias Klangwelt, bevor ihre Stimme als verzerrtes Rhythmuselement auf „Flakes Flying Upwards”, einem verschrobenen, alienhaften Breakbeat-Track, das gewisse, außerweltliche Extra verleiht. In dem gedrängten Groove von „Soul Reflections” spiegeln sich dagegen ihre Psytrance-Wurzeln, und auf „Twisted Colours” darf sich eine Vielzahl verschiedener Rhythmen abwechseln, die anderswo für eine ganze Footwork-EP gereicht hätten. All das geschieht, während immer wieder Wangs Stimme, Saxofon, Flöte oder Violine zum Einsatz kommen – doch nicht nur als Gag oder Alleinstellungsmerkmal, sondern tatsächlich singuläre Bausteine, die ihren organischen Traumszenarien Essenzielles verleihen und diese atmosphärischen Welten mit Detaildichte und Musikalität bereichern.
So ist Dream Horizons ein zwar an Club-Strukturen angelehntes, aber doch zum mehrmaligen Durchhören einladendes Album, das in seiner assoziativen Natur und vielschichtigen Bauweise immer neue Entdeckungen und Interpretationen bereithält. Und beweist, dass Lindsey Wang dem Hype um ihren Namen nicht nur gerecht, sondern eine ganze Ecke voraus ist.