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Juni 2025: Die essenziellen Alben (Teil 2)

Teil 1 der essenziellen Alben aus dem Juni findet ihr hier, Teil 3 hier

Facta – GULP (Wisdom Teeth)

Mit GULP veröffentlicht Wisdom-Teeth-Mitbetreiber Facta sein zweites Album nach Blush von 2021 und natürlich unzähligen EPs, die der umtriebige Bass-Music-Produzent seit 2013 auf diversen namhaften Labels veröffentlicht hat.

Folgerichtig ist GULP eine sprudelnde Oase aus Bass-Tracks, die alle Nuancen des diversen Übergenres ausloten. Sei es kontemplativer Ambient im Opener „Terminal” wie auch im Closer „Settle”. Oder B-More beeinflusster Bounce bei „BDB”, gefolgt von housigeren Tunes wie den darauffolgenden „Jets” und „Skyline 4”. Mit „SLoPE” wird es dann wieder leicht breakiger, bevor Facta mit „Laguna” perlon-artigem Minimal House Tribut zollt. Zu dem Thema hatten er und Wisdom-Teeth-Kollege-K-Lone vor Kurzem ja bereits die grandiose Compilation Pattern Gardening zusammengestellt – kleiner Seitentipp.

Das alles fügt sich zu einem wunderbaren, mit knapp 30 Minuten aber auch etwas kurzem Album mit kontemporärer Bass Music zusammen, so warm und heimelnd wie swingend über den Dancefloor hüpfend. Ganz großes Ohrenkino auf jeden Fall, für daheim wie den Club. Tim Lorenz

Lenxi – Did you get the dream I sent you? (Nous’klaer Audio)

Auf ihrem Debütalbum verbindet Lenxi auf clevere Art Electronica und Boutique-Techno mit Indie-Pop. Die insgesamt zehn Tracks powern dabei mit viel Elan und Spielfreude durch die Playlist, mal verspielter in ineinandergreifenden Melodiebögen, mal tranciger nach vorn pushend. Ihre Stimme benutzt sie dabei sowohl als effektgeladenes Instrument in zahlreichen hintergründigen Chops und Cuts als auch vordergründig als erzählendes Element. Denn das sind schon eher Songs als Tracks. Eher Lieder als Club-Bomben – wobei die Stücke allesamt durchaus auch auf dem Dancefloor funktionieren dürften. Denn die Art, wie Lenxi Techno, Trance und IDM verbindet und verschränkt, überrascht immer wieder. Und die melancholisch-getragene Stimmung fast aller Stücke, geschrieben, laut Presseinfo, aus der Perspektive eines gebrochenen Herzens, zieht den tief hinein in Lenxis Universum. Welches auf Nous’klaer Audio seinen perfekten Platz gefunden hat. Tim Lorenz

Margaux Gazur – Blurred Memories (Smallville Records)

Jedes dieser Stücke könnte 30 Minuten dauern, es lässt sich gut darin verlorengehen. Oder 30 Sekunden, alles hier lädt ein zum Loopen. Flache Bassdrums, von Subs unterspült, wenige Akkordwechsel, Blue Notes: Margaux Gazur, eine französisch-vietnamesische Künstlerin mit derzeitigem Sitz in Berlin, interpretiert den Entwurf des Smallville-Sounds in besonders inniger, spannungsloser Weise. Ihr Album Blurred Memories hat keinen Anfang und kein Ende. So geht es jedem einzelnen Track.

Es passiert halt nicht viel, und das bei vollem Willen und Bewusstsein: Das Titelstück etwa kommt mit wenigen Spuren aus. Zum beinahe statischen, verbeulten, melancholischen Key kommt eine pochende Bassdrum. Irgendwann. Und zu Beginn, „Agata” heißt das Stück, pluckert es gut reinfühlmäßig, und so bleibt der Vibe. „Weich” heißt schließlich der Zusammenschluss von Leuten, die im queeren Berlin interdisziplinäre Kunst-Veranstaltungen durchführen und zu denen Margaux Gazur gehört. „Madake” klingt wie House aus Japan, „Su Phu” plonkert. Kein Spannungsaufbau ist auch eine Dramaturgie, zeigt dieses Album, und: Das Ambientige von Ambient kann in den Beats liegen. Christoph Braun

Mikkel Rev – Journey Beyond (A Strangely Isolated Place)

Mikkel Rev, einst Steuermann im Trance-Kosmos von Ute.Rec, entzieht den Kickdrums die Schubkraft und lässt sie als schillernden Nebelschleier wieder auftauchen. Journey Beyond ist sein bislang kühlstes, vielleicht kühnstes Statement: eine Platte, die nicht nach vorn prescht, sondern rückwärts taumelt, bis sie im eigenen Echo verschwindet. Wo andere Ambient sagen, meint Rev: Innengeräusch.

„Fragile” wirkt wie ein beschlagener Spiegel am Morgen: flirrende Mikro­partikel aus Hall und simulierten Saiten, dann ein leiser Aufschrei, schon wieder verschluckt. Jede Pad-Schicht fragt, ob sie bleiben darf. Die Spannung greifbar, als hielte jemand ein Gummiband kurz vorm Einschnappen. „Endless” liefert den ersten Impuls: kein Beat im klassischen Sinn, sondern ein warmer Klangfilm. Die Bassfahne pulsiert, nicht um zu bewegen, sondern um zu versichern, dass in dieser Kältekammer noch Leben herrscht. Rev verschraubt Resonanzen, bis sie wie Sternenstaub funkeln, und schaltet die Gravitation ab: Hören heißt hier Schweben. „Desolate Plains” zieht sich in eine graustufige Traumlandschaft zurück. Drone-Flächen liegen wie vulkanische Asche – unergründlich, hochauflösend. Wer genau hinhört, spürt ein Subrauschen: das Zittern des Raums, vielleicht das eigene Blut. Darin liegt der Sog dieser Musik, zugleich an- und abwesend. „LM 8182” beamt uns in eine kybernetische Zukunft, wie wir sie uns in den Neunzigern erträumten: Kaltes Chrom, LEDs im Nebel, Melancholie in der Maschinen­kammer. Glitch-Splitter flackern wie Fehlmessungen, Sequenzen stottern, als wollten sie ihre Semantik decodieren. Keine Retro-Nostalgie, sondern eine gebrochene Fortschritts­fantasie. „Homeworld” lässt kurz Wärme einströmen: weite Pads, modulierte Leads, ein melodisches Motiv, das Hoffnung andeutet – doch der Heimatplanet bleibt schemenhaft; ein Teleskopbild aus zu großer Distanz. Boards-of-Canada-Fans erkennen die melancholische Weichzeichnung, nur ohne Lo-Fi-Patina: kristallklar, gefährlich fragil. Der Titeltrack bündelt alles zu schwebender Kontur­losigkeit. Rev, Meister der Pause, lässt Klänge aufblitzen, verformen, verstummen. Man denkt an Wolfgang Voigts GAS, nur höher, dünner, stratosphärischer. Der Track endet nicht – er verlässt das Sichtfeld. Journey Beyond ist Welt­flucht ohne Fluchtpunkt, ein Transit­raum zwischen Erinnerung und Spekulation. Ambient, der nicht betäubt, sondern belichtet: Gefühle im Röntgenverfahren. Für Reisende zwischen Biosphere, GAS, ASC und KMRU, die ihre Melancholie gern im hoch­auflösenden Vakuum konservieren. Liron Klangwart

Herbert & Momoko – Clay (Strut)

2013 fragte die Groove die Szene nach den 100 wichtigsten Alben in der elektronischen Tanzmusik seit 1988. Der Brite Matthew Herbert war gleich zweimal vertreten, einmal mit seinem Erstlingswerk 100 Lbs von 1996, einmal mit dessen Nachfolgewerk Around The House von 1998. In diesen frühen Meisterwerken gelingt Herbert nicht weniger, als durch die Produktion eines ultra-deepen, heftig ansteckenden US-House hindurch einen Sound zu erfinden, der eine Sanftheit und einen Soul ausdrückt, die oder den es in diesem Milieu bisher schlicht nicht gab. Dieser House begann auf Vocals zu setzen, jazzige Harmonien, reduziertes Tempo und organische Instrumentierung zu verbinden und dann auf der letztendlich gleichen – deepen – Basis weiterzuentwickeln. Reduktion, Verfeinerung, Raum: Herbert hat das Minimale nicht nur antizipiert, sondern ihm mit seiner Exploration den Boden mit bereitet. Von hier kommend, ist alles, was folgen sollte – Discogs listet nicht weniger als 91 Releases, 364 Beteiligungen, davon allein 110 Remixe, und 1167 Credits –, einzuschätzen beziehungsweise hörend zu bestaunen.

Nun veröffentlicht Herbert eine neue LP mit dem Titel Clay. Sie ist zusammen mit der britischen Sängerin und Drummerin Momoko Gill entstanden. Jeder der elf Tracks hat einen Vocal-Part, in dem Gills Soul-Stimme über den Beats schwebt und diesen Schwerelosigkeit verleiht. Gleichzeitig brummt und knistert Herberts unvergleichliche Produktions-Eleganz unter dieser Stimme, und wieder stellt sich bei dieser lebenden Legende die Frage: Ist das Musik für die Listening Bar, der Hintergrund für das Café mit gut selektierter Musik oder doch ein Track für das nächste gut kuratierte Classic-House-Set? Die Musikpopkultur dreht ihre Schleifen. Darf es wieder sanfter, gefühliger, gefälliger, wieder mehr Nullerjahre sein? Mit Herbert, bitte, ja. Nathanael Stute

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