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Motherboard: Juni 2025

Wenn das Leben in dem Land, in der Stadt, aus der du kommst, nicht mehr auszuhalten ist, wenn die Enttäuschungen und der Druck zu hoch werden, kann das zu Verbitterung, innerem oder äußerem Exil führen. Muss es aber nicht. Im Fall der türkischen Produzentin Sine Buyuka alias Sinemis war der auf Farewell (Injazero Records, 2. Mai) dokumentierte Umzug nach London Anlass zu einer kreativen Explosion, zu einem neuen Sound, der über reinen Ambient hinausweist, Vintage-Synthesizer und angedeutete Beats in treibende Electronica integriert. Ein Sound, der Wut und Trauer in Schönheit, Kraft und Eleganz übersetzt. Was mehr kann Kunst können?

Wenn Ambient weder Raumzeit auslotende, kopfstrenge Klangkunst sein noch sich auf akustische Zimmerparfümierung beschränken möchte, dann entsteht wohl moderne Mood Music, melancholisch angedunkelte wie filmisch erzählende opulente Stimmungsmusik. Im Falle der französischen Musikerin und Lyrikerin Cleo T. ist volle Aufmerksamkeit in jedem Fall mehr als angebracht, wenn nicht schon garantiert. Des Forêts et des Rêves (Moonflowers, 10. April) erzählt nicht nur von Träumen und Wäldern, es baut eine ganz eigene surreal-hyperlogische Welt aus Piano, Theremin, Stimme und Hallspiralen. Im üppigen Gesamtsound und der zupackenden Machart referiert das Album recht deutlich auf Soundtracks wie etwa Badalementis Twin Peaks oder Wendy & Lisas Heroes-Score, die elektroakustischen Klangdetails und die Anklänge an Dream Pop und Shoegaze sind allerdings hochmodern und gehen über das rein Funktionale, das Begleitende und Raumfüllende hinaus. Cleo T. ist Songwriterin, eine ziemlich brillante noch dazu.

Mit ihrer Mini-LP The Year of the Jellyfish (Infinite Machine, 23. Mai) träumt sich die Schweizer Produzentin Casanora noch weiter weg von den schroffen heimatlichen Bergmassiven wie den Klangmassiven ihres Debüts Electric Water, hinein in einen ozeanischen Sound aus submarinen Gefühlswelten. Als multimedial agierende Sounddesignerin gelingt ihr dies überaus immersiv, technologisch avanciert, am Puls der Zeit, hat aber immer einen oder mehrere Tentakel in Hyperpop, Techno und Trip-Hop, jeweils verflüssigt, weich, warm strömend, verstanden als mitreißender Strom liquider Klangkristalle.

Nach dem Plastik nun das Metall. Die spielerischen wie hochkonzeptuellen Sound-Explorationen von Matmos finden auf Metallic Life Review (Thrill Jockey, 20. Juni) zu neuen Höhen des Ausdrucks. Für derart profilierte Samplekünstler und Klangforscher wie Drew Daniel und M.C. Schmidt und illustren Gäste aus dem Grenzbereich von Rock, Avantgarde und Noise wäre es ein Leichtes gewesen, ein Album voller metallischem Industrial-Hämmern zu fabrizieren. Doch weit gefehlt, das Album klingt eher nach Leichtmetall-IDM, nach freundlichstem Blechklöppeln und Dengeln als nach schwerindustriellem Entfremdungs-Brutalismus. Bei aller Leichtigkeit im Spiel lugt doch immer die Moderne, oder besser Mehrzahl: die Modernen der vergangenen fünfzig, sechzig Jahre aus dem fluffigen Sounddesign. Von MEV über Coil zu obskureren Braindance-Acts der Neunziger ließen sich bestimmt noch zig Mikroreferenzen schnitzeljagen. Nötig ist es nicht, um sich eines tollen, immens detailreichen wie tiefen Albums zu erfreuen.

Der Kanadier Nick Storring ist ein Kristallisationskeim verschiedenartigster Szenen, eine Seed-Bomb für musikalische Zusammenhänge und Stile. Nicht nur Interpret, Musiker auf diversen Instrumenten, vom Schlagwerk angefangen, ebenso selbstverständlich in Klassik, Moderne und zeitgenössischer Komposition wie in aktueller Elektronik bis hin zu Electronica und Post-Club-Klängen zuhause, Promotor, Veranstalter und Kurator, und nicht zuletzt eben Komponist und Produzent eigener Musik, die er auf so unterschiedlichen Labels wie bei den Ultra-HD-Elektronikern von Orange Milk, Sound-Art-Imprints wie Mappa, oder der alteingesessenen Neue-Musik-Plattform Entr’acte veröffentlicht. Sein jüngstes Album Mirante (We Are Busy Bodies, 21. März) widmet sich der brasilianischen Popmusik, interpretiert die brasilianischen Rhythmen von Samba bis Baile Funk auf je eigene, unnachahmlich abstrakte Weise. Dass die Stücke trotz ihrer Überfülle an Geklöppel, scharfer Perkussion und bassigem Rumpeln oft wie Ambient funktionieren, gibt dem Album einen zusätzlichen Reiz.

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