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Mai 2025: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Teil 1 der essenziellen Alben findet ihr hier, Teil 2 hier.

Mark Pritchard & Thom Yorke – Tall Tales (Warp)

Ja, doch. Wenn man seit circa 34 Semestern auf der Kunstschule ist und dort unter anderem Strohballen mit Koffergurten festzurrt und das dann Kunst nennt oder zumindest interessant, dann könnte dieses Album eine neue, ich sag es hinter vorgehaltener Hand: Inspirationsquelle sein. Weil, ja: Da ist auf der einen Seite Mark Pritchard, der ja immer wieder schöne Dinge macht seit gefühlt 200 Jahren. Und dort drüben, da ist Thom Yorke, dessen künstlerischen Ausdruck man vielleicht schon mal ertragen musste, nach einer Trennung oder während einer Beziehung. Jedenfalls haben beide vor langer, langer Zeit schon einen guten Song gemacht. Und weil das Gute ja immer guter werden muss, müssen es jetzt ganz viele Songs sein. Die machen insgesamt einen Film, den man sich anschauen kann, was man sollte. Weil man so vergessen könnte, dass es zwischendurch, ich sage mal, ganz interessant wird. Oder totalnett. Oder irgendwie anders, während man sich beim Anblick festgezurrter Strohballen denkt, immerhin sind die Getränke gratis. Christoph Benkeser

Mattheis – Waiting for the Silhouette (Nous’klaer)

Denkt man ein wenig darüber nach, so gehören die Veröffentlichungen des niederländischen Boutique-Labels Nous’klaer zumeist in eine von drei groben Kategorien. Da sind die electronica-funkigen Platten wie die von Mata Disk oder Kreggo. Da ist trance-affiner Technohouse, wie etwa von Eversines. Und dann ist da noch gesangslastige Musik zwischen Goth und Indie wie die von Mathilde Nobel.

Mattheis‘ wunderschönes 40-Minuten-Album wiederum sitzt da etwas zwischen den Stilen – zwischen Electronica und Techno, um genau zu sein. Einmal sind da elegische Ambient-Passagen, die klingen wie Standfotos verregneter Nachmittage einer ungewissen Zukunft. Nicht umsonst erinnert der Opener an Vangelis’ episch-kitschige Blade Runner-Dystopie.
Dann wieder sind da die Stücke, die von wuchtig geratener Bassdrum getragen tief in so minimale wie gleichzeitig bombastische Trancezustände führen – Tracks von hymnischer Qualität. Das alles verbinden hintergründige Industrial-Atmosphären. Diese klingen aber weniger nach urbanem Zerfall denn nach verrostet verlassenen Spielplätzen, überwuchert von regenfeuchtem Grün. Insgesamt also eine wuchtige Platte fein ziselierter melancholischer Schönheit – um sich mal an eine Beschreibung zu wagen. Tim Lorenz

Meetsysteem – Gekleed In Donker, Ze Vroegen Niks (Nous’klaer)

Erinnert sich noch jemand an The Postal Service, Jimmy Tamborellos (alias Dntel) und Ben Gibbards (Mitglied von Death Cab for Cutie) Früh-Zweitausender-Projekt, das ziemlich erfolgreich, aus kreativer Sicht zumindest, Indie-Gitarren-Pop mit Electronica verband? Genau die sind es nämlich, die mir sofort ins Gehirn schießen, wenn ich das dritte Album der niederländischen Indieband Meetsysteem höre.

Wie die Seattler verbinden sie melancholische Gitarren-Schrammel-Songs mit kurzweilig-humoresken Electronica-Einschüben und einer heimeligen Lo-Fi-Klangästhetik in der Produktion. Getragen von Ricky Cherims zart-zurückhaltendem Gesang sowie einigen Gast-Vocalist:innen, entsteht so eine verspielte Atmosphäre, die sich vor den eventuellen amerikanischen Vorbildern in keinerlei Hinsicht verstecken muss. Musik, in der man sich sofort zuhause fühlt. Eine feine, aurale Poesie wohnt diesen Tracks inne, vielleicht könnte man das Cozytronica nennen?
Da ich des Niederländischen nicht mächtig bin, kann ich über die Texte leider nicht viel sagen. Der Label-Info nach ist das in Thailand entstandene Album inspiriert vom Mond, schwebend in der weiten Endlosigkeit des Alls. Meinethalben. Manchmal reicht ja auch der Klang der Stimmen als Instrument, um die Poetik der Texte zu übertragen. Hier zumindest klappt das ganz prima. Tim Lorenz

Neuzeitliche Bodenbeläge – Neue Kreise (Bureau B)

Holt die Tod’s raus, beige Shorts angezogen, Ralph-Lauren-Hemdchen dazu! Wir gehen Yachten mit dem Hamburger Duo Neuzeitliche Bodenbeläge. Eine Band, die klingt, als würde Rocko Schamoni mit Steely Dan wegen einer Kollabo telefonieren mit dem Ziel, wie Laid Back zu klingen. Ja, die Laid Back, mit „Sunshine Reggae” hatten sie einen gleichermaßen schlimmen wie schönen Hit, vor allem aber haben sie damals ja wirklich zurückgenommenen, im Schaukelstuhl kiffenden Ausruhepop produziert. Fragt nicht, wie lange das her ist. Und waren dabei aber nie funky oder toasty, haben es aber auch nicht streberhaft versucht: nachzuhören in ihrem Hit-Nicht-Hit „Bakerman”.

Wie der Herr, so’s Gescherr mit Namen Neuzeitliche Bodenbeläge: furchteinflößende Slap-Bässe zu kindlichen Keys in „Bittere Gifte”, Fahrstuhl-Breaks im schön betitelten „Durchzug”, krass-gerade Beats zu Fender-Rhodes-Orgel in „Im Dunkeln”, Beach-Pop im Titelstück. Niklas Wandt und Joshua Gottmanns tummelten sich ursprünglich in DIY-Umwelten. Es ist erfreulich, dass sie einen Schritt zum großen Pop wagen. No pressure, doch wir warten ab jetzt auf das „Sunshine Reggae” der Neuzeitlichen Bodenbeläge. Mondän tigert der „Puma” im Bar-Jazz-Shuffle, ihr aber braucht nun die große Bühne. Christoph Braun

Rashad Becker – The Incident (Clunk)

Rashad Becker ist wahrscheinlich als dritte Generation durch die Mastering-Schule von Dubplates & Mastering, einem der einflussreichsten Mastering-Studios der Erde, gegangen. Die Sozialisierung mit den Klangvorstellungen von Moritz von Oswald, Mark Ernestus und CGB ist damit gesetzt. Am Paul-Linke-Ufer 44a in Kreuzberg erinnert heute leider nur noch die Stickersammlung an der Eingangstüre am auf den Abriss wartenden Hinterhaus an die goldenen Berliner Dub- und Techno-Zeiten: Das Mastering-Studio, das Label Basic Channel und den Plattenladen Hard Wax. Dieses Haus stand früher wie kein zweites in Europa für die neuesten und frischesten Sounds, die die populäre elektronische Musikszene auf diesem Kontinent zu bieten hatte.

„Busy Ready What, Corroborators” startet, als würde die Titelmusik der englischen Fernsehserie UFO an der Route 66 entlang humpeln und Gefahr laufen, von transponierten Sägezahn-Rasern eingestaubt und von Rave-Sirenen umgeblasen zu werden. Das war es aber auch schon mit der Rave-Reminiszenz! Rashad pitcht gleich darauf so etwas wie eine Spielzeug-Drehleier gleichzeitig runter und hoch. Das klingt irgendwie völlig wahnsinnig und neu. Der nächste Track „A Supposition Darkly” klingt wie eine Mischung aus Candomblé-Voodoo-Groove und selbstprogrammierten Max/MSP-Jitter-Spielerein oder doch nach modularen Synths. Ehrlich gesagt: Ich habe seit Langem mal wieder echt keine Ahnung, wie diese Soundästhetik generiert wird. Die Hallräume sind phänomenal! „Of Permanent Advent” kann ich noch nicht mal mehr im weitesten Sinn einem Genre zuordnen, so polyrhythmisch klappert die Nummer auf den Skeletten und zombie-esk organischen Resten der elektronischen Musik umher. Und „All You Need to Know About Confusion” schickt mich zerhackt in asiatische, geisterhafte Klangharmonien, die sich aber niemals völlig zu erkennen geben und einlösen wollen. Die letzten beiden Tracks „Deadlock” und „What Really Happened” klingen noch am ehesten nach Ambient.

Aber was weiß ich denn schon darüber, was in der letzten Stunde wirklich passiert ist? Für den Dancefloor und auch den Chillout wurde The Incident garantiert nicht produziert. Eins ist aber sicher: Diese Klangästhetik hört sich verdammt anders an. Damit steht Rashad Becker wohl in der Tradition der beiden Gründer von Dubplates & Mastering. Mirko Hecktor

Ron Trent – Lift Off (Rush Hour)

Mit gerade mal 17 Jahren veröffentlichte der Chicagoer Produzent und DJ Ron Trent seine Debüt-EP The Afterlife auf Warehouse Records, dem Label von Armando und Mike Dunn. Das war im Jahr 1990. Diese Platte enthielt den Über-Hit „Altered States”, der über Jahre hinweg aus den Sets zahlloser DJs nicht wegzudenken war. 1993 gründete Ron Trent zusammen mit Chez Damier das Label Prescription. Die beiden hoben House damals auf ein völlig neues Level. Nachdem sich das kongeniale Duo entzweite, verblieb Trent als alleiniger Betreiber von Prescription, während sein ehemaliger Partner die Geschicke des einstigen Schwesterlabels lenkte. In den Jahrzehnten danach kehrte Ron Trent immer wieder zu Fusion-Jazz-Sounds zurück. Womit wir bei Lift Off wären, seinem neuen Album.

Das Cover zeigt eine Pyramide vor einer urbanen Skyline. Auf diese steuert ein Auto zu, das Autoradio spielt den Radiosender Trent FM. In den USA waren in den Achtzigern Sender sehr erfolgreich, die sich dem Format Quiet Storm widmeten. Der Begriff geht auf ein Album des Motown-Stars Smokey Robinson zurück, das den Titel A Quiet Storm trug. Quiet Storm steht für einen Mix aus smoothem Fusion Jazz und R’n’B. Lift Off übersetzt dieses Format in die Klangsprache von Ron Trent. Üppige Arrangements mit Percussion-Unterbau im Sinne von Deep-House sind integrale Bestandteile dieses musikalischen Vokabulars, mit dem der am 23. Mai 52 Jahre alt werdende US-Produzent immer wieder große Tracks erschuf.

Die Tracks auf Lift Off versprechen in den ersten Takten immer wieder ein Abheben, am Ende verharren sie aber zumeist in einem Schwebezustand, der ganz Quiet Storm ist. Allzu oft verliert sich Ron Trent in fusion-jazzigen Improvisationen. Eine wirkliche Überraschung ist einzig „Just Another Love Song”, das als erste Single aus dem Album ausgekoppelt wurde. Ein Synth-Pop-Song, der aber ebenfalls nicht wirklich aus dem Quiet-Storm-Format ausbrechen will. Der beste Moment des Albums, das auf Vinyl in zwei Teilen erscheint, ist eine Kollaboration mit der Disco- und Boogie-Legende Leroy Burgess. „Let Me See You Shining” ist ein Uptempo-80s-R’n’B-Song, der nicht nur im Kontext der zehn Songs auf Lift Off herausragt. Daneben bekommt man mit „Woman of Color” und „Street Wave”, einem Track, der Lars Bartkuhn an der Gitarre listet, weiteres Ron-Trent-Material, das durch und durch solide ist. Holger Klein

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