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April 2025: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Den ersten Teil der essenziellen Alben im April findet ihr hier, den zweiten hier.

Ploy – It’s Later Than You Think (Dekmantel)

Sam Smith alias Ploy erzeugt mit einer funktionalen Groove-Basis und höchst inspirierten musikalischen Elementen Clubmusik, die zwar nichts Neues erfindet, aber mit der Techno- und House-Geschichte so kreativ und beschwingt umgeht, dass sich das Gefühl einstellt, gerade einer Wiedergeburt beizuwohnen. Viele Stücke leben von der Gleichzeitigkeit von Leichtigkeit, die gerne auch mit Albernheit liebäugelt, und Ideen, die sich sonst eher in IDM- oder Listening-Electronica finden. Und es sind nicht nur Sounds, Melodien und Harmonien, die sich vom Mainstream abheben, sondern auch die Art, wie Ploy seine Stücke baut. Bei fast keinem findet sich das typische Clubtrack-Schema mit Breakdown als Ziel und dem folgenden, oft nur vorher eingeführte Elemente wiederholenden Schlussteil. Die Tracks auf It’s Later Than You Think unterscheiden sich zudem alle insofern voneinander, dass sich kein Muster dieser Andersartigkeit beschreiben lässt. Alle sind anders anders.

Trotzdem kann der Titeltrack als Beispiel herhalten: Beat und Bass grooven auf beschriebene effektive, aber nicht spektakuläre Weise, alle über dieses Gerüst hinausgehenden Elemente sind jedoch ungewöhnlich originell und auf lässige Art anspruchsvoll. In der ersten Hälfte des Stücks bestimmen verrauschte Sound-Verwehungen mit Sidechain-Effekt die Atmosphäre, dazu kommen Bleeps und weitere Arrangement-Elemente, die alle über das übliche Ideen-Repertoire von Clubtools hinausgehen. Breaks werden angedeutet, aber schnell umkurvt, ein Knarzbass darf ebenso nur kurz um die Ecke spähen und ein Gefühl dafür hinterlassen, was er hätte anrichten können, eine Marimba-Melodie kommt spät hinzu und würde bei den meisten Acts als Hauptelement ewig oft wiederholt werden – hier fliegt sie kurz winkend vorbei und überlässt dem Groove ohne Spektakel wieder das Feld. Und so bleibt der geheimnisvoll-belebende Eindruck, einen echt coolen Track gehört zu haben, ohne genau zu checken, worauf dessen Coolness eigentlich fußt. Mathias Schaffhäuser

Rod Modell – Northern Michigan Snowstorms (Silentes)

Rod Modell ist einer der wenigen Produzenten, der den Post-Post-Post-Basic-Channel-Sound noch hochhält und dabei nicht nur immer schon einzigartig klang, sondern nach wie vor noch klingt. Ob als DeepChord (gemeinsam mit Stephen Hitchell) oder eben solo: Sounddesign buchstabiert sich M-O-D-E-L-L. Ambient, dubby, weit und vor allem deep. Ob in dieser Mischung Bassdrums mitschwingen und takten, ist sekundär bis gar nicht wichtig.

Hier, auf Northern Michigan Snowstorms, spielen sie überhaupt keine Rolle. Stattdessen sind die Tracks abgetönte und doch schillernde, in Klang gegossene Aquarelle; Backdrops für Momente, die die Seele so berühren, dass sie ohne begleitenden und verstärkenden Soundtrack kaum auszuhalten wären. Schneestürme mögen die Inspiration für Modell gewesen sein, seine Kompositionen strahlen aber universell. Alles klingt leicht und zurückgenommen – so können die Gedanken aus eigener Kraft heraus federn. Was das alles mit Basic Channel zu tun hat? Nichts natürlich, und genau so soll es auch sein. Die ästhetische Brücke von damals ins Heute bleibt zwar nicht vollständig verborgen, ist aber eher abstrakt und voller kaum wahrnehmbarer Windungen denn ein konkretes Polaroid. Und unter dem Schnee wartet schon der Frühling. Auch zu dem passt Modells elegische Melancholie besser als alles andere. Thaddeus Hermann

Son Of Chi – We Carry Eden (Music From Memory)

Wie alles, was Hanyo van Oosterom in den letzten Jahren und Jahrzehnten musikalisch umgesetzt hat, ist auch We Carry Eden durch das Kaleidoskop verschiedenster Einflüsse aus aller Welt zu sehen. Schon als er mit dem 2019 verstorbenen Jacobus Derwort Anfang der Achtziger das Tribal-Ambient-Projekt Chi gründet, lassen sich die beiden von den mystischen Kulissen der griechischen Insel Patmos ebenso inspirieren wie von den apokalyptischen Prophezeiungen des Hopi-Stamms und einem unbestechlichen Pantheismus, der statt positivistischer Indifferenz in allem die unendliche Fürsorge gottgleicher Kräfte erkennt. Ist das also religiöse Musik? Jein. Auch wenn der Titel etwas anderes vermuten lässt, könnte We Carry Eden kaum weiter von einem abrahamitischen Glaubensbekenntnis entfernt sein.

Stattdessen reist der in Rotterdam ansässige Multiinstrumentalist und leidenschaftliche Weltentdecker van Osteroom als Son Of Chi zur prähistorischen Höhle von Lascaux, zu den Monolith-Kulturen Vorderasiens, die etwa in Göbekli Tepe schon astronomische Formeln in Stein meißelten, als die kataklysmischen Events der jüngeren Dryas gerade erst überstanden waren. Eine Zeit, als die großen Pyramiden von Gizeh ein tausende Jahre entfernter Traum der Zukunft waren – so weit weg von allem, was wir für gegeben oder normal oder real halten, dass unser szientistischer Hochmut keinen unverstellten Blick erlaubt.

Und doch: Intuitiv fühlbar entfaltet sich das Sounddesign über die ganzen 42 Minuten hinweg zwischen Field Recordings und tribalen Schlagwerken, geloopten Dialogen und Gebeten, fernen Rufen und bezirzenden Flöten – als würde eben doch der kurze, klare Blick in eine andere Wirklichkeit gelingen, die nichts von den kulturellen Konventionen unserer Tage kennt. Sonnenstrahlen auf den Augenlidern, Tempelbauten im Mondlicht, ein Tagesmarsch durch Wüsten und Steppen. Dazwischen kurze Intermezzi von zurückgelehntem Lounge-Jazz, zarteste Anschläge eines hinter Lianen schwebenden Pianos, das Gefühl von Geborgenheit in einer zutiefst zerrütteten Welt. Wer kann das nicht gebrauchen? Nils Schlechtriemen

Steffi x Virginia – Patterns Of Vibration (Dekmantel)

Steffi und Virginia schalten mit Patterns Of Vibration einen Gang höher – und bleiben dabei auf ihrer ganz eigenen Frequenz. Auf Dekmantel, einem Label, das wie die beiden für Clubkultur mit Tiefgang steht, entfaltet sich ein Album wie ein Sonnenaufgang nach einer durchtanzten Nacht. Die Tracks: punchy, präzise, voller Wärme, aber niemals retro. Statt Rückschau gibt’s Gegenwart: Soul II Soul und frühe Chicago-Sounds schimmern durch, doch alles klingt nach dem Jetzt. Steffi x Virginia stehen für Soulfulness im House – geboren aus zwei Dekaden kollektiver Booth- und Studioerfahrung. Das Album entstand in einem dreimonatigen Studio-Retreat im portugiesischen Candy Mountain. Sonne, Freunde, Vinyl und ein Kater, der nie schlimm war. Auch Steffis 50. Geburtstag floss als kreative Energie ein. Der Leitsatz: „Let the positivity shine through!” Und das hört man. Patterns Of Vibration will nichts beweisen – es weiß einfach. House als gelebte Verbindung.

„Nightflight” zieht ein Broken-Tribal-Pattern, „Stab Stealer” schwebt euphorisch zwischen Chicago und Offenbarung. „7 In The Morning” klingt wie der letzte Drink bei Sonnenaufgang. „Touching-U” eröffnet sphärisch, „Walk With Me” bleibt hängen, ohne anbiedernd zu sein. Virginia ist dabei mehr als nur Stimme: Sie ist Leading Line, Textur und Rhythmus zugleich. Ihr Gesang ist ein Gewebe aus Gefühl, Groove und Körperlichkeit. Steffis Produktion liefert dazu: Analogwärme, kluge Pausen, einen Minimalismus, der berührt. Patterns Of Vibration ist House in Bestform – emotional, geerdet, fluide. Für Fans von: Panorama Bar zu später Stunde, analogen Grooves und Vocals, die mehr erzählen als Worte. Lieblingstrack: „Walk With Me”, weil man sich dabei ganz sicher nicht verliert. Liron Klangwart

Voice Actor, Squu – Lust (1) (Stroom)

Das Verrätselt-Vernebelte kann neugierig machen oder zu spontanem Abdanken führen. Auf dem zweiten Album von Voice Actor beziehungsweise dem ersten Album, das Noa Kurzweil als einzige verbliebene Künstlerin des einst als Duo angetretenen Projekts nun zusammen mit der walisischen Produktionskraft Squu eingespielt hat, kann eine wohlwollende Haltung dem Seltsamen gegenüber auf keinen Fall schaden. Sie wird sogar äußerst großzügig belohnt. Denn die Mischung aus Spoken Word, oder vielleicht besser: Whispered Word, und derangierten Loops unterschiedlichster Spuk- und Rumpelhaftigkeit sitzt. Lust (1) – kommt da irgendwann noch Lust (2) hinterher oder gehört die Ziffer in Klammern einfach untrennbar zum Lustbegriff der Beiden, sodass die Sache in sich abgeschlossen ist? – findet bei aller Neigung zu schwummeriger Sprödigkeit zugleich eine feine Balance von Zugänglichkeit und Unzugänglichkeit. Kurzweils Stimme hat nichts Werbendes, will nicht um jeden Preis gefallen, klingt aber alles andere als abweisend. Wie die Klänge behauptet sie schlicht ihre Eigenheit oder vielmehr ihren Eigensinn. Das Ergebnis hat in seiner Schrulligkeit etwas gewaltlos Elektrisierendes. Beats gibt es hin und wieder übrigens auch. Tim Caspar Boehme

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