Den ersten Teil der essenziellen Alben im April findet ihr hier, den dritten hier.
Hieroglyphic Being – Dance Music 4 Bad People (Smalltown Supersound)
Jamal Moss ist der große Solitär des House. Niemand zählt mehr die Alben, die der Produzent aus Chicago in den letzten 20 Jahren herausgebracht hat. Musikalisch hat er sich seine ganz eigene Welt erschaffen. Der Fixstern im Hieroglyphic-Being-Kosmos ist das Erbe von Chicago House im Sinne von Armando, Dance Mania, Adonis oder Phuture. Dass er andererseits ein Bewunderer von Sun Ra ist, daraus macht Jamal Moss keinen Hehl.
Auch das neue Album Dance Music 4 Bad People bricht nicht aus diesem Koordinatensystem aus. Wie immer klingen die Tracks wie Edits aus einer endlosen, mit einem Tapedeck aufgenommenen Live-Session. Intros sind ihm fremd, Moss kommt stets gleich zur Sache – mit gnadenlosen Handclaps, kaputten Hi-Hats und ruppigen Bassline-Loops, die über die gesamte Spieldauer der Tracks ihren Weg gehen. Darüber wird Schicht auf Schicht gestapelt. Die Umlaufbahn von real existierender Clubmusik lassen die Stücke schon bald hinter sich. Mit kreiselnden Synthesizer-Flächen, fies fiepsenden Tönen aus dem oberen Bereich des Klangspektrums, an Afrobeat erinnernden Bassläufen oder betrunken wirkenden Hammond-Improvisationen erzeugt Moss eine nervöse Sci-Fi-Psychedelia-Atmosphäre, die trotz aller Schroffheit und Hyperaktivität verblüffend entspannend wirkt, wenn man sich gerade darauf einlassen mag.
Der Albumtitel ist einerseits ironisch zu verstehen, andererseits setzt er das Chicago der Achtziger mit der heutigen Szene in Relation. Moss sieht es so: „Festivals und Clubs geben vor, sichere Räume zu propagieren, aber jeder hat es wahrscheinlich schon selbst erlebt: Man sieht sich um, und ein guter Prozentsatz der Leute im Club scheint nicht glücklich zu sein.” Der legendäre Chicagoer Club Music Box sei ein Fluchtraum gewesen, ein Ort, in dem man die Welt da draußen, all ihre Probleme und Themen hinter sich lassen konnte: Die wirtschaftlichen Widrigkeiten der Reagan-Ära, die Kriminalität, Gewalt und das Crack-Siechtum auf den Straßen. Alle seien willkommen gewesen, unabhängig von Lebenswegen, Ansichten oder sexueller Orientierung. „Jeder sollte geliebt, verehrt und respektiert werden, egal welchen Weg man einschlägt”, so Jamal Moss. Holger Klein

JakoJako – Tét 41 (Mute)
JakoJako spricht auf ihrem neuen Album ihre eigene Sprache. Sie kommuniziert ihre Eindrücke über elektronische Klänge. Ihre Übersetzungsmaschinen waren in diesem Fall der Eurorack und der Waldorf Iridium Core, mit denen das gesamte Album aufgenommen wurde. Es entstand während des Mondneujahrsfestes Tết, das Sibel Koçer mit ihrer Mutter in deren Herkunftsland Vietnam feierte. Gerahmt sind die einzelnen Tracks, die verträumte und außerweltliche Klänge anschlagen, von Field Recordings aus Vietnam. Somit erinnert Tết 41 an Ansätze wie den von Emeka Ogboh, der Eindrücke von Lagos anhand musikalisch aufbereiteter Field Recordings einfängt, oder Azu Tiwaline, deren dynamische Techno-Kompositionen Inspiration aus der tunesischen Wüste El Djerid ziehen.
Tết 41 ist somit eine Introspektion von Koçers Wahrnehmungen während des Festes, ihrer Interpretationen der Atmosphäre und Stimmungen. Koçer bleibt dabei ihrem Kommunikationsmittel, einem Sound zwischen Ambient und IDM, treu. So tummeln sich auf den insgesamt zehn Tracks minimale Pad-Arrangements mit einer Vielzahl an Arpeggios, die flirren, ploppen, taumeln und klimpern. Während sie auf „Lì xì” beispielsweise energisch und fast schrill durch die langgezogenen Pads grätschen, ergänzen sich zarte Arpeggios und aufgebauschte Synthwellen in „Hoa đào” zu einem Klangerlebnis, das meditativ überrollt. Den Blick Richtung Dancefloor richtet „Gió” mit glitschig fluidem Synth-Geklimper und rauschig-flächigen Pads – und tänzelt doch dran vorbei. Somit verweilt der Track im spielerischen IDM-Charakter, der mehr Hörerlebnis als treibende Beats bietet.
Nicht nur erlebnisreich, sondern auch voller Hörgenuss kommt Tết 41 mit seinem impressionistischen Konzept daher. Dabei drängt es seine Inspirationsquelle nicht pedantisch auf, sondern lädt ein, in Koçers Sicht auf die Dinge einzutauchen. Louisa Neitz

Light-Space Modulator – The Rising Wave (AD 93)
Kammer-Pop von Shackleton! Es hatte sich ja angebahnt. Seit gut zehn Jahren spielt der englische Produzent Sam Shackleton ebenso mit Harmonien und deren Anordnungen, wie er es in den Jahren zuvor bereits mit Perkussion und Rhythmiken getan hatte. Gemeinsam mit Marlene Ribeiro benennt er sich nun nach einer Lichtmaschine des Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy.
Als Light-Space Modulator veröffentlichen die beiden ein Album im Dialog-Format. Denn Ribeiro, aufgewachsen in Portugal und seit Teenager-Jahren in verschiedenen Gegenden Großbritanniens lebend, singt. Dabei ordnet sie ihre Melodien so an, dass sie antworten auf Shackletons größtenteils langsam pulsierende, eher in klaren Flächen und Linien kommunizierende Instrumentals. Oder Ribeiro kommentiert diese. Ein Beispiel ist der Track „Burning Within”: gedämpftes Drum-Tupfen, verhalten hallende und verhallende Becken und Saiten, und Riberio geht mit, kommentiert und untersucht. Die Neugierde ist eine ganz offene, kindlich-träumerische, auf kein Ergebnis hin orientiert, und das macht diese Musik so groß wie im besseren Sinne erwachsen. Ribeiros frühere Band Gnod klang, wie Sonnenmilch in der Sonne riecht; dies hier hat nun die spezifische Schönheit eines spätsommerlichen Stoppelfeldes. Christoph Braun

Madteo – Misto Atmosferico E Ad Azione Diretta (Unsure)
Madteo ist ein Giftmischer höchster Güte. Etwa im Wellenlängenspektrum mit Huerco S oder DJ Sotofett sendend, ätzen und brummen und schneiden die Stücke des New Yorker Produzenten auf seiner neuen LP Misto Atmosferico E Ad Azione Diretta, erschienen auf dem Label Unsure. Dabei stellt sich die Frage, weshalb sich gerade dieser kratzige Aufruf zum Tanz so enthemmt einlöst. Die Komposition beschwört das Bild einer Brücke, die droht einzustürzen, sobald eine bestimmte Masse im Rhythmus der Eigenresonanz auf ihr läuft und das Bauwerk dadurch in eine kritische Schwingung versetzt. Der Fachbegriff dieses Phänomens lautet: mechanische Resonanz. Madteos Tracks stürzen allerdings nicht in sich zusammen qua ihrer disruptiven Eigenresonanz, was zu erwarten wäre; sie beginnen mit der Zeit zu schweben. Darunter, darüber, daneben, dahinter – dazwischen. Wo passiert er, dieser Groove? Wir werden das Wie des quietschenden Zusammenspiels von Fülle und Auslassung, das auf dieser Platte als Gift kickt, nicht verstehen respektive lokalisieren. Das ist auch nicht Ziel der Übung. Diese Lo-Fi-Bass-Music-House-Platte ist maschineller Tribalismus, metaphysischer Drive; hier wird nicht gedacht, sondern gespürt. Misto Atmosferico E Ad Azione Diretta ist eine mystische Schönheit, ein Wahnsinn zu tanzender Destruktion. Nathanael Stute

Nazar – Demilitarize (Hyperdub)
Während Nazars Debütalbum Rough Kuduro mit einer eher rohen Interpretation angolanischer Kuduro-Musik daherkam – Nazar selbst ist Geflüchteter, Sohn eines Rebellen-Generals, der im Bürgerkrieg des afrikanischen Staates kämpfte –, so ist die Musik auf Demilitarize, der Titel lässt es bereits erahnen, weitaus ruhiger, sphärischer. Dominierten auf Rough Kuduro noch aus Field Recordings extrahierte kantige Sounds, ist das Klangbild nun vollkommen synthetisch, von ätherischer Science-Fiction-Eleganz. Nazar nennt den Soundtrack des Animes Ghost In The Shell als eines seiner Vorbilder.
Auslöser dafür waren sowohl eine neue Liebesbeziehung als auch eine aufgrund des geschwächten Immunsystems langwierige Covid-Erkrankung. Entsprechend zart und feingliedrig ist die Musik des Albums. Kuduro-Rhythmen sind zwar immer noch wahrnehmbar, sie sind jedoch weit in den Hintergrund getreten. Im Zentrum steht dafür indessen Nazars sanft schwebende Stimme, umwoben von ruhig anströmenden und abebbenden Basswellen. Das erinnert sicher nicht von ungefähr an den traumhaften Goth der Cocteau Twins oder Arthur Russells filigran-feine Post-Disco-Balladen. Im Grunde ein postmodernes Singer/Songwriter-Album, das in seiner Abstraktheit in ungeahnte Schluchten der Schönheit führt. Tim Lorenz
