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MATTHEW HERBERT „Unsere Gesellschaft ist im Arsch“

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Noch bis Mittwoch, den 24. September 2014, verwandelt Matthew Herbert die Tischlerei der Deutschen Oper in Berlin in ein offenes Studio, in dem innerhalb einer Woche unter Beteiligung des Publikums ein neues Album entstehen soll. Im Idealfall, so hofft der britische Produzent und Komponist, entsteht dabei eine Arbeit, die eine gesellschaftliche und politische Bedeutung hat. Wir haben Herbert zu den Hintergründen des Projekts mit dem Titel The Recording befragt.

 

Matthew, wie kam die Zusammenarbeit mit der Deutschen Oper in Berlin zustande?

Der Grund dafür ist eine Oper, die ich für das Royal Opera House in London geschrieben habe. Die Royal Opera wollte mit der Deutschen Oper zusammenarbeiten und The Crackle, das Stück, das ich aufführte, sollte nach Berlin kommen. Aber das Stück stellte sich in London als sehr ambitioniert heraus. Es traten 74 zehnjährige Kinder darin auf und es wurde einfach viel zu viel Arbeit um die gesamte Produktion nach Berlin zu bringen. Stattdessen entschieden wir uns ein neues Projekt zu entwickeln und dieses Projekt ist The Recording.

Was genau wird an den Abenden in der Tischlerei der Deutschen Oper passieren?

Die kurze Antwort ist: Ich weiß es nicht. Die ausführliche Antwort ist: Ich werde Musik komponieren und wir werden auf der Bühne Musik einstudieren und aufnehmen. Aber es wird auch Podiumsdiskussionen zu verschiedenen Themen geben. So wird sich ein Tag um die spirituelle Seite von Musik drehen, ein anderer um die technische Seite und ein anderer um die politische Seite. Und dann werden wir versuchen, eine Reihe von Aufgaben für den nächsten Tag zu formulieren und Methoden dafür, wie wir am nächsten Tag Musik machen werden. So wird jeder Abend auch zu einer Mischung der Themen und Ideen des vorangegangenen Abends. Es wird viele Gespräche und Aktivitäten geben: Manche Leute werden neue Instrumente bauen, manche Leute werden etwas essen, manche werden Musik spielen, manche werden im Internet recherchieren, manche werden Zeitung zerschneiden – es wird eine Art große offene Werkstatt werden.

Wie wählst du aus, was am Ende des Abends aufgenommen wird?

Am ersten Tag werden wir versuchen, Regeln dafür aufzustellen. Wir werden uns viele schwierige Fragen darüber stellen, was genau wir tun und aufnehmen, warum wir etwas aufnehmen und ob die Welt überhaupt noch mehr Musik braucht. Ich glaube, eines der größten Probleme, das wir haben, ist dass es zuviel Musik gibt. 75 Prozent der auf iTunes verfügbaren Stücke wurden noch nie heruntergeladen! Es gibt eine riesige Menge an Musik da draußen, die nie gehört wird. Warum sollten wir also neue Musik produzieren, sollten wir uns nicht zuerst das ganze andere Zeug anhören? Das ist eine wirklich wichtige Frage, die wir am ersten Tag beantworten müssen. Ich kann nicht vorhersagen, was in dieser Woche passieren wird. Es kann sein, dass wir eine Oper mit einer Besetzung von 2.000 Leuten machen oder ein Album mit einem Straßenmusikanten. Oder wir entscheiden uns dafür, einen Film anstelle eines Albums zu machen, oder was auch immer. Das wird alles am ersten Tag entschieden.

Mit wievielen Besuchern rechnest du?

Das ist schwer zu sagen, da die Veranstaltungen zu lustigen Tageszeiten stattfinden: Es beginnt um 16.30 Uhr und endet um 22 Uhr. Ich hoffe also wirklich, dass unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten kommen werden. Ich hoffe, dass wir zur Stoßzeit ein paar Hundert Besucher haben werden. Zu einer anderen Zeit könnte es nett sein, nur fünf bis sechs Leute da zu haben. Einfach nur um sich zu unterhalten, ein Glas Wein zu trinken und zusammen zu musizieren. Es ist also wie ein großes, offenes Studio.

Wie hast du die verschiedenen Themen für die Abende ausgewählt?

Ich habe versucht, verschiedene Aspekte von Musik finden, die man untersuchen könnte. Einmal geht es um das Vergnügen, dabei werden wir viel über Clubmusik reden und warum Musik manchmal als sexy betrachtet wird. An einem anderen Tag denken wir über die verkopftere Seite von Musik nach, etwa wie Musik eine politische Kraft sein kann. Hat sie überhaupt noch eine Macht oder hat die Werbung bereits alles aufgesogen? An einem weiteren Tag reden wir über Techniken. Das alles sind Themen, über die ich sowieso nachdenke, wenn ich in meinem Studio an einer Platte arbeite. Nur dieses Mal bringen wir alle diese Dinge auf die Bühne, und stellen die Frage: Wollen wir, dass die Musik, die wir machen eine spirituelle Dimension hat und falls ja, wie erreichen wir das? Oder wollen wir Dance Music machen und warum wollen wir das oder warum nicht? Das alles sind Fragen, die ich mir stelle, wenn ich eine Platte mache. Sie werden jetzt nur öffentlicher gestellt.

Welche Gäste werden für die Podiumsdiskussionen eingeladen?

Ich weiß nicht genau, welche Namen ich schon verraten darf, denn manche sind geheim und manche nicht so sehr. Am ersten Tag haben wir Tim Renner, den neuen Berliner Kultur-Staatssekretär auf der Bühne, jemanden von der Occupy-Bewegung, jemanden von den Grünen und den Kurator Detlef Diederichsen. Das ist also eine politische, soziale und kulturelle Runde. Aber das wird ebenfalls variieren.

Welche Aufgabe hat die Band während des Projekts?

Wir werden eine Menge Klänge mit dem Publikum aufnehmen. Vielleicht schicken wir das Publikum auch raus auf die Straße und lassen es dort Geräusche aufnehmen. Dann holen wir es wieder zurück, zerschneiden die Aufnahmen und machen aus ihnen Musikinstrumente. Der Job der Band ist es, die dabei entstehende Musik aufzuführen, damit sie nicht einfach nur von den Computern gespielt wird. Ich denke nicht, dass es sehr interessant ist, jemanden dabei zuzusehen, wie er Klänge zerschneidet und sie dann im Computer abspielen lässt. Ich will, dass es eine Live-Vorstellung bleibt. Deshalb habe ich eine Gruppe Musiker dabei, auf deren Fähigkeit zur Interpretation ich vertraue.

Was sind deine Erwartungen an dieses Projekt? Was glaubst du, wird während dieser Woche passieren?

Nun, ich hoffe, dass es eine Revolution wird! (lacht) Ich glaube zwar nicht, dass das tatsächlich passieren wird, aber das ist und bleibt meine Hoffnung. Du willst immer etwas erschaffen, das noch nie zuvor gemacht wurde und du willst das kapitalistische System zerstören. Ich weiß, das ist ein sehr großspuriges Statement und wenn man es niedergeschrieben liest, klingt es wahrscheinlich so, als wäre ich ein völliger Idiot! Aber schlussendlich möchte ich Musik machen, die eine tiefgreifende Wirkung hat. Realistischerweise glaube ich nicht, dass das diese Woche erreicht wird, aber vielleicht gelingt uns ein kleiner Schritt nach vorne bei dem Versuch, Antworten auf einige Probleme zu finden, die wir haben.

Gerade in England ist unsere Gesellschaft komplett im Arsch, wir bewegen uns in die völlig falsche Richtung. Wir haben ein System geschaffen, in dem wir ständig immer mehr Dinge kaufen und konsumieren müssen, damit nicht alles zusammenbricht. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir wissen, dass das Klima sich verändert und wir im Grunde genommen alle sterben werden. Wir leben in einem Zeitalter des Wahnsinns. Bei meiner Arbeit steht immer die Hoffnung im Vordergrund, dass wir einen Weg aus diesem Schlamassel finden. Ich versuche immer, mich und mein Verhalten zu verändern, mich nicht zu wiederholen und nicht jahrein, jahraus die gleiche olle Musik zu machen. Ich will nicht in einer kleinen, sicheren Blase leben, sondern versuchen meine Privilegien in Frage zu stellen. Ich möchte einen kleinen Funken erzeugen, der Veränderungen auslösen kann oder einen positiven Einfluss hat. Oder, wie ich sagte, die Regierung stürzen, echten Wandel anstoßen und nicht belanglos sein. Denn das ist die meiste Musik heute – einfach belanglos. Manchmal kann auch das fantastisch sein, aber nicht die ganze Zeit.

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