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AUFGANG Welche Dialoge noch möglich sind

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Text: Arno Raffeiner, Fotos: P.E Rastoin, Richard Bellia
Erstmals erschienen in GROOVE 123 (März/April 2010)

2009 war wieder mal ein Jahr des großen Unworts: Crossover. Zahlreiche Projekte machten sich daran, zwei grob mit „Techno“ und „Klassik“ betitelte Musikbereiche ineinanderzumorphen. Besonders ein Name fiel in diesem Zusammenhang immer wieder: Francesco Tristano. Der klassisch ausgebildete Pianist spielt im Konzertsaal Bach neben Neuer Musik und Detroit-Techno. Mit seinem Trio Aufgang bringt er nun live gespielte Klavierklänge auf die Tanzfläche und verwischt dabei zunehmend die Grenze zwischen Loop und da capo. Die Zeichen stehen auf Paradigmenwechsel: Hier kommt der Techno für die Philharmonien, die Klassik zum Tanzen.

Plötzlich kommt die Musikmaschine ins Stocken. Ein Kanal fällt aus, vielleicht hakt es irgendwo an der Stromversorgung? Ein kurzer Blick verschafft Klarheit. Ah ja, Verzettelung am linken Flügel. Die Greifarme fingern hektisch an Papierseiten herum, statt wie bisher präzise Tasten zu bearbeiten. Aber beim nächsten Einsatz ist alles wieder im Takt. Die Notenblätter sind sortiert, die sechshändige Maschine pulsiert, perlt und hämmert wieder so sagenhaft tight wie kurz zuvor. Bei einem Konzert des dreiköpfigen Projekts Aufgang, das wie niemals zuvor gehört Techno und sogenannte klassische Musik fusioniert, machen sogar die Fehler und Irritationen Spaß. Es tut gut, Weltklasse-Pianisten auch mal ein bisschen schleudern zu sehen. Ach, das sind ja doch nur Menschen! Und es schadet nicht, von einem wahrlich seltenen Anblick gleichermaßen überrascht und verunsichert zu werden: Techno nach Noten? Daran hat ein clubsozialisiertes Publikum noch ganz schön zu schlucken. Die Herren von Aufgang aber lieben das Spiel mit solchen Brüchen und Kontextverschiebungen. Und genau deswegen erwarten manche von ihnen nichts weniger als einen Fingerzeig nach vorne, in die Zukunft der elektronischen Musik.

Ein paar Stunden vorher. In den weitläufigen Räumen der Sucrière, einer ehemaligen Zuckerfabrik im französischen Lyon, sitzen drei junge Kosmopoliten vor zwei Konzertflügeln und einem Schlagzeug und lassen gelangweilt ihre Beine über den Bühnenrand baumeln. Sie geben am Abend ein Konzert zum Abschluss der zehnten Kunstbiennale in Lyon und schauen den Besucherinnen der Ausstellung hinterher, tauschen verschmitzt ein Lächeln und ein paar Insider-Infos aus dem Musikgeschäft. Es ist ein Bild wie vom Pausenhof: eingeschworene Bande, abgebrühte Coolness, jugendlicher Charme. Dazu ein Duft von Rebellion, gemischt mit dem Aroma der Gewissheit, eigentlich niemandem mehr etwas beweisen zu müssen. Schließlich haben die drei schon einiges im Curriculum Vitae stehen: den Besuch der renommierten Juilliard School of Music in New York etwa, Sergei-Prokofjew-Aufnahmen begleitet vom russischen Nationalorchester, Auftritte mit einem Liverpooler Sinfonieorchester, eine Einspielung von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen, Konzerte in der Kölner Philharmonie, der Cité de la Musique in Paris oder der Carnegie Hall in New York. Also jede Menge Referenzen, die – im ReComposed-Zeitalter mit seinen Yellow Lounges, Electro-Klassik-Compilations und Bayreuth-Berghain-Analogien – inzwischen auch das Clubpublikum zu goutieren weiß.

Jungsbande und Supergroup

Die Jungsbande am Bühnenrand in Lyon stellt so etwas wie die neue Supergroup dieses Zeitalters dar. Und zwar eine recht bunt gemischte Supergroup. Da ist Rami Khalifé, der 28-jährige Sohn des bekannten libanesischen Komponisten, Sängers und Oud-Spielers Marcel Khalifé. Er stammt aus Beirut und ist direkt von seiner Hochzeit in Australien angereist. Sein Bandkollege Aymeric Westrich ist dreißig Jahre alt und in Paris zu Hause. Westrichs Vater spielt als Bassist in Jazzformationen und Rockbands, der Sohn hat schon mit diversen französischen Rappern zusammengearbeitet und als Schlagzeuger bei Cassius und Phoenix ausgeholfen. Und schließlich sitzt da, als Dritter im Bunde, ein braunlockiger Schlacks, der sich mit seinem Spitznamen vorstellt: Chicho. Mit vollem Namen heißt er Francesco Tristano Schlimé, stammt aus Luxemburg, lebt seit einigen Jahren in Barcelona und spricht neben einem hervorragenden Deutsch noch sechs weitere Sprachen. Mit seinen 28 Jahren wird der Pianist immer noch gern als „Wunderkind“ bezeichnet, da man ihn, zumindest auf den ersten Blick, auch gut fünf Jahre jünger schätzen könnte.

Zu dritt sind sie Aufgang. Zwei Pianos, ein Schlagzeug plus eine variable Anzahl elektronisch generierter Klänge. Die drei Bandmitglieder sind zwar allesamt klassisch ausgebildete Musiker, aber ihre gemeinsame Livepremiere feierten sie 2005 in Barcelona beim Sónar-Festival. Mit ihrem ersten, selbstbetitelten Album treten sie nun an, Techno auf die nächste Musikalitäts-, Virtuositäts-, und manche behaupten gar: Offenbarungsstufe zu heben. Man kann sich daran erinnern, dass Francesco Tristano vor drei Jahren in Technozirkeln nachhaltig von sich reden machte. Nicht unbedingt mit einer bahnbrechenden stilistischen Neuerung, aber mit der Interpretation eines Tracks, der viel an Geschichte auf dem Buckel hat und weit zu den Ursprüngen zurückgeht: „Strings Of Life“ von Derrick May. Ein Riff für die Ewigkeit, das „Smoke On The Water“ des Techno, die Schicksalssinfonie der elektronischen Tanzmusik, die natürlich nicht an der E-Gitarre gespielt und auch nicht am Drumcomputer programmiert wurde, sondern von den markanten Pianoläufen lebt, die einst der Klavierspieler Michael James für Derrick May einspielte.

Einen solchen Klassiker ausgerechnet am Klavier neu einzuspielen birgt auch eine gewisse Redundanz in sich. Aber mehr als um interpretative Spitzfindigkeiten geht es bei so einer Hommage darum, sich in einen Referenzrahmen zu stellen, und zwar im Sinne einer Erweiterung: Mein Musikkosmos ist auch in diese Richtung offen! Im Fall von Francesco Tristano bedeutete das: Detroit-Techno im Konzertsaal. Normalerweise im Rahmen eines Solokonzerts am Klavier, edel bestuhlt, vor kulturell erwachsenem, betuchtem Publikum, mit einem Repertoire, das hauptsächlich Barockmusik umfasst (Bach ist Tristanos Spezialität), dann mit einem Zeitsprung zu Neuer Musik wechselt und am Ende im Technoriff schlechthin gipfelt: im Dröhnen der „Strings Of Life“.


Video: Francesco TristanoStrings Of Life

Genau an einem solchen Abend, wiederum im Jahr 2005, diesmal allerdings in Paris, ist Alex Cazac zugegen, Manager des französischen Produzenten und DJs Agoria – und nur kurz danach sind Agoria und Tristano frisch gebackene Labelbetreiber. Der Pariser Konzertabend von Tristano gab nämlich den Anlass für die Gründung von Infiné, dessen programmatisch zu verstehender Labelname durchaus von dem Pianisten stammen könnte: Er ist angelehnt an Infinité, die Unendlichkeit, und steht für einen barrierefreien Rundumblick, für Musik als grenzüberschreitendes Kontinuum. In einem Café in seiner Heimatstadt Lyon erzählt Sébastien Devaud alias Agoria von der Überwältigung bei seinem ersten Kontakt mit Tristanos Musik: „Als ich zum ersten Mal seine Stücke gehört habe, war das ein großer Schock. Ich hatte gerade meine Mix-Compilation Cute & Cult fertig und musste die Tracklist wegen seiner Musik noch mal umstellen. Denn nachdem ich seine Version von ‚Strings Of Life’ gehört hatte, wusste ich sofort: Das müssen die Menschen in der Elektronikmusik-Welt hören.“ So wird eine Maxi von Tristanos May-Interpretation, inklusive Remixes von Kiki und Apparat, die erste Infiné-Veröffentlichung. Die Resonanz ist groß, auch aus Detroit gibt es entzückte Rückmeldungen. Kurz danach erscheint das Album Not For Piano, auf dem sich weitere Interpretationen von Technotracks finden (nach Originalkompositionen von unter anderem Jeff Mills und Autechre), zugleich aber auch die ersten Aufnahmen von Tristanos eigener Musik.

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