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ZEITGESCHICHTEN Alec Empire (Teil zwei)

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Text: Max Dax
Erstmals erschienen in GROOVE 131 (Juli/August 2011)

Teil eins | Teil zwei | Drei Alben von Alec Empire

Wie erklärst du dir die mysteriöse Grundstimmung deines Mille-Plateaux-Albums Low On Ice von 1995? Basieren die Aufnahmen ebenfalls auf unsichtbarer Energie?

Rückblickend antworte ich: Weil ich mich auf Island damals so gefühlt habe. Das Album ist vielleicht deshalb ganz interessant, weil es Low On Ice ohne Atari Teenage Riot niemals gegeben hätte. Das Album wurde 1995 veröffentlicht. Das war eine ganz wichtige Zeit, nicht nur in der Berliner Digital-Hardcore-Szene. Wir waren damals auf ein riesiges Festival in Island eingeladen, blieben aber nach dem Auftritt noch vier Tage auf der Insel. Nach dem exzessiven Festivalset – ich erinnere mich noch, dass wir alle Instrumente in den roten Bereich übersteuert hatten – fuhr ich am nächsten Morgen mit brennenden Ohren in die weite Natur und suchte dort nach dem genauen Gegenteil. Ich trinke keinen Alkohol, aber so stelle ich mir einen Kater vor. Man kann eine Platte wie Low On Ice nur machen, wenn man vom einen Extrem ins andere zu gehen bereit ist. Ohne den Noise in den Ohren hätte ich das Elegische des Albums niemals musikalisch beschwören können.


Video: Alec Empire – Low On Ice (1995)

Der Island-Auftritt von 1994 gilt als entscheidender Auftritt in der Bandgeschichte von ATR. Es heißt, viele Kontakte seien dort geknüpft worden, die bis heute relevant sind.

Es war folgendermaßen: Sowohl Aphex Twin, Björk und Primal Scream als auch die Jungs von The Prodigy haben sich unseren Auftritt vom Bühnenrand angeguckt. Sie alle haben an diesem Abend zum ersten Mal die pure Energieübertragung eines Digital-Hardcore-Konzerts erlebt. Es gab ein solches Verlangen im Publikum nach einer Wiederholung am nächsten Tag, dass ich gefragt wurde, vor The Prodigy Platten aufzulegen. Deren Manager versuchte, dies mit allen Mitteln zu verhindern, um dem direkten Vergleich der Energien aus dem Weg zu gehen. Witzigerweise war die nächste Single, die The Prodigy anschließend veröffentlichten, „Firestarter“ – nichts anderes also als eine Popversion unseres Sounds. Unser Ruf in England baut auf den euphorischen Artikeln auf, die nach dem Islandkonzert in der britischen Presse veröffentlicht wurden.

Was für eine Rolle spielte die anschließende Isolation auf Island?

Der Kontrast war wichtig. Atari Teenage Riot hatten nie zuvor vor einem so großen Publikum gespielt. Und ich habe in den Tagen danach ein noch nie zuvor empfundenes Gefühl des Alleinseins erleben dürfen. Das war großartig, und Low On Ice legt Zeugnis von diesem Zustand ab. Viele Leute sagen, die Aufnahmen klängen, als seien sie unter Wasser entstanden. Das liegt daran, dass alle Mitten und Höhen gekappt wurden, nur noch Bassfrequenzen zu hören sind. Bei ATR hingegen ging es immer darum, die Mitten und die Höhen zu verstärken, weil das einfach einen aggressiveren Sound ergibt. Es ist ja kein Zufall, dass der Klang einer Polizeisirene, aber auch die schreiende menschliche Stimme genau in diesem Frequenzbereich liegen. Ich finde nicht, dass es ein Widerspruch ist, wenn man sagt: Die Unruhe der Bässe und die Lautstärke können eine fast identische Spannung haben. Witzigerweise gibt es Leute, die hassen ATR und lieben Low On Ice – und umgekehrt.

Es ist auffällig, dass du dich mit ATR, aber auch als Solokünstler vom ersten Moment an international orientiert hast. War das eine bewusste Entscheidung?

Ich frage mich oft, warum ich zu bestimmten Momenten in meinem Leben an bestimmten Orten gewesen bin. Als wir damals 1992 einen Deal mit dem Majorlabel Phonogram unterschrieben hatten und in London das erste Album aufnahmen, wohnten wir in einem kleinen Apartment. Nachts, nach den Sessions, gingen wir stets zurück in dieses Apartment, und um etwas Musik zu hören, suchten wir im Radio nach interessanten Sendern. Wir fanden bald Piratensender, die nonstop Jungle-Musik spielten. Hätten wir statt des Radios eine Stereoanlage gehabt – wer weiß, was passiert wäre? So auf alle Fälle kam zu der ursprünglichen Formel, dass wir nämlich die Energie von Punk und die Energie von Techno kombinieren wollten, ein drittes Element hinzu: Breakbeats.

Dass es „erlaubt“ war, etwas zu kombinieren, war das Teil deiner DJ-Sozialisation?

Man darf in Musik eingreifen. Das war die Schule, die durch Leute wie Grandmaster Flash im HipHop begründet wurde. Es hat mich daher auch nicht beeindruckt, als meine Eltern sagten, man müsse mit einem Schallplatten-Spieler sorgsam umgehen. Bei Wildstyle im Fernsehen hatte ich es doch ganz anders gesehen. Also scratchte ich den Plattenspieler kaputt.

Und im DJ-Set selbst?

Carl Crack und ich haben damals, das muss dasselbe Jahr gewesen sein, und wir waren noch stark beeindruckt von den Piratensendern, in einem Club in Berlin aufgelegt. Ich mixte X-Ray Spex mit den damals typischen Raveproduktionen mit ihren 130 bis 140 BPM. Das bedeutete natürlich, dass ich die Punkplatten krass hochpitchen musste, viel zu schnell abspielen musste, damit nicht die absurde Situation eintrat, dass Punkrock im Vergleich zur schnellen elektronischen Musik wie eine lahme Ente klingt. Und die Leute rasteten im großen Stil aus, vor allem bei den Frauenstimmen. Wir haben das sofort auf unsere Plattenproduktion rückgekoppelt. Wir fragten uns: Wie kann man diese Energie konservieren?

Warum hebst du die Frauenstimmen hervor?

Weil es natürlich auch eine politische oder gesellschaftliche Aussage ist, wenn du in einer Männerdomäne, und das war Techno damals, Frauenstimmen prominent auftauchen lässt. Frauen waren im Techno bestenfalls Tänzerinnen, aber nicht Protagonistinnen. Das war im Punk anders. Und daran kann man die Leute ja gelegentlich erinnern.

Optisch hätte man ATR damals für eine gecastete Band halten können …

Klar, das sehe ich auch. Aber entscheidend ist ja, dass man die Parameter verschiebt. Zurück in London sind wir auf die Partys gegangen, bei denen Breakbeats gespielt wurden, zu Goldie etwa. Wir waren beeindruckt, allein schon, weil sich dieser Sound zu Anfang noch gegen jede Kommerzialität gestellt hat. Aber wir fanden auch, dass es noch härter geht als das, was wir da in Brixton zu hören bekommen hatten. Es war immer das Interesse an der Musik und ihren Extremzuständen, weshalb es mich etwa zum ersten DJ-Set von Underground Resistance im Tresor gezogen hat oder zu anderen Orten, an denen dann tatsächlich Musikgeschichte geschrieben wurde. Man entwickelt vielleicht eine Art Gespür dafür. Umgekehrt geht es anderen suchenden Musikern ja ebenso. Wir suchen uns gegenseitig und finden uns. Und es war mir von Anfang an fremd, nur in Deutschland nach einem Gegenüber zu suchen. Ich wundere mich ehrlich gesagt immer ein klein wenig, wenn es als etwas Besonderes dargestellt wird, dass ich im Ausland von einem bestimmten Schlag von Musikern respektiert werde. Das beruht erstens oft auf Gegenseitigkeit, und zweitens ist es heute, in Zeiten von Facebook, ganz normal, dass Kontinente überbrückt werden.

Das Gleiche sagt der kürzlich verstorbene Schriftsteller und Philosoph Édouard Glissant: Es gibt nicht mehr einzelne Avantgarden in New York, Köln oder London, sondern jeder Kontinent, jedes Land ist heute Teil einer globalen Avantgarde.

Genau. Dass Atari Teenage Riot einen Plattenvertrag bei Grand Royal bekommen haben, liegt ganz einfach daran, dass die Beastie Boys auch Plattensammler sind und international suchen. Und die Rechnung ging ja auf: Unser Album Burn! Berlin! Burn! ging 1997 Gold in den USA.

Der Titel des Albums bezog sich auf den Schlachtruf der Watts-Aufstände 1965 in den USA: „Burn, baby, burn!“. Fallen solche Albumtitel oder auch Songtitel wie „Hetzjagd Auf Nazis“ ebenfalls in die Kategorie Aufladung von Musik?

Na klar.

Wie wichtig ist das Politische in deiner Musik?

Von Anfang an war die Motivation immer politisch. Dass manche Außenstehende das für Show oder Posing halten – dagegen kann man nichts tun. Ich glaube, dass diese Kritik vor allem von Leuten kommt, die unsere Musik nicht mögen, so banal das klingt. Vielleicht irritiert es manche Leute, dass die Botschaft, wenn man so will, immer eindeutig ist, immer so einfach wie möglich. Ich möchte, dass alle die Botschaft verstehen können. Einen Instrumentaltrack „Hetzjagd Auf Nazis“ zu nennen bedeutet, dass im Titel bereits alles gesagt ist. Auch der Bandname Atari Teenage Riot sagt genau aus, worum es geht: Teenager mit Atari-Computern machen aggressive Musik. Das mag für manche unterkomplex sein, aber für mich ist das eine gültige Herangehensweise. Und um es noch einmal deutlich zu sagen: Für mich ist Musik ein ganz und gar politisches Medium. Ob man Musik nun missbraucht, um Menschen so zu synchronisieren, damit sie funktionieren – oder ob man Musik benutzt, um Menschen wachzurütteln. Es ist immer ein politischer Akt.

Welche Rolle spielen Räume?

Die sind enorm wichtig. Die halblegalen Ostberliner Clubs nach dem Mauerfall waren politisch aufgeladene Räume. Und andersrum: Der Supermarkt, in dem Fahrstuhl-Musik gespielt wird, wird dadurch zu einem atmosphärischen Raum, in dem der Konsum, der Kauf begünstigt wird. Oder die Militärparade oder die Musik in der Kirche. Räume beeinflussen die Qualität der Botschaft, und jede Musik, die in spezifischen Räumen zur Aufführung gebracht wird, hat sich im Idealfall mit dem Raum auseinanderzusetzen, um nicht beliebig, konform und/oder funktional zu sein.

Gelingt dir das?

Es ist bereits ein wichtiger Schritt getan, wenn man als Musiker oder Band nicht versucht, ein angenommenes oder antizipiertes Publikum zu bedienen. Wenn man sich gewissermaßen die Register, wie der eigene Sound zu sein hat, nicht danach aussucht, ob sie dem Publikum wohl gefallen werden oder nicht. In England gründen sich ständig Bands, die „die neuen Oasis“ zu sein versuchen. Sie versuchen also, einem Publikum zu entsprechen, das es bereits gibt. Diese Herangehensweise, die das Publikum als Kunden definiert, ist mir fremd. Das war mir schon als Teenager klar. Mir war auch früh klar, dass die Musik, die morgens im Radio läuft, dort nicht etwa gespielt wird, weil sie gut ist oder für ihre Zeit steht. Sondern ausschließlich deshalb, damit es einen Soundtrack zur Fahrt zur Arbeit gibt, beziehungsweise zur Arbeit im Büro selbst. Wenn man das einmal verinnerlicht hat, will man keine funktionale Musik mehr produzieren. Dann ist so etwas wie das Radio – im Unterschied vielleicht zum Piratensender – keine Kategorie mehr, die man bedienen möchte. Mit Atari Teenage Riot haben wir uns absichtlich dieser Denkweise widersetzt.

Inwiefern kann Musik neu sein?

Ich glaube nicht an Zyklen, ich glaube an Evolution. Auch wenn jede Musik auf bereits Dagewesenem aufbaut, dreht sie sich deshalb nicht im Kreis. Ich kann die Leute nicht verstehen, die in der Vergangenheit denken oder die klagen, alles sei heutzutage retro. Man muss nur dorthin gehen, wo das Neue zu formulieren versucht wird. Und man wird fündig werden.

 

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